PER SCIENTIAM AD IUSTITIAM !
The German Society for Social Scientific Sexuality Research (DGSS)
is proud to award to
Prof. Richard Green, MD, JD
the Magnus Hirschfeld Medal for Sexual Science.
Prof. Dr. Dr. Green is Founding President of the 'International Academy of Sex Research' and
Past President of the 'Society for the Scientific Study of Sex'. He has published more than hundred journal articles, more than seventy book chapters, and ten books on sexuality research and connected this with reflections on the system of law.
He was between 1971 - 2001 Editor-in-Chief of the "Archives of Sexual Behavior. An Interdisciplinary Research Journal", which is published bi-monthly. He is series editor of the "Perspectives in Sexuality: Behavior, Research, and Therapy", which includes until now thirteen titles. He is one of the most important sexual researchers of our time, who has not only brought social-sexual research forward, but also has filled it with humanistic and enlightened inspiration.
In short, Richard Green more than deserves this honor which we bestow upon him on the occasion of our XVIIth national congress at Lüneburg University.
Lüneburg, September 24, 2006
Prof. Dr. Gunter Runkel Prof. Dr. Karta Etschenberg
President Vice President
Laudatio
- given by Gunter Runkel, DGSS Past President -
Prof. Dr. Dr. Richard Green, MD, JD
Head, Gender Identity Clinic, Charing Cross Hospital
Professor, Department of Psychiatry, Imperial College Faculty of Medicine at Charing Cross
Magnus Hirschfeld Medal 2006
for Sexual Science
(text to be made available by Prof. Runkel shortly)
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PER SCIENTIAM AD IUSTITIAM !
Die Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS)
ist stolz darauf, ihre
Magnus-Hirschfeld-Medaille für Sexualreform
an
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Rita Süssmuth
zu verleihen.
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Rita Süssmuth hat sich in Ihrer Funktion als Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit von 1985 - 1988 sowie als Anregerin und Mitgründerin der Deutschen AIDS-Stiftung, in der sie fast zwanzig Jahre Vorsitzende des Kuratoriums war und im März 2006 den Ehrenvorsitz übernommen hat, beispielhaft für die Sexualreform in Deutschland eingesetzt.
Sie hat sich in schwieriger Zeit gegen politische und gesellschaftliche Widerstände durchgesetzt und mit ihrer Haltung Mut, Herz und Verstand bewiesen. Sie hat die entscheidenden Weichen für eine liberale und humane AIDS-Politik nicht gegen, sondern mit den Betroffenen-Gruppen gestellt. Sie hat die staatliche Unterstützung der nichtstaatlichen, unabhängigen AIDS-Hilfe-Gruppen initiiert und damit ein sehr erfolgreiches gesundheitspolitisches Modell geschaffen, das auch international Massstäbe setzte. Frau Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Rita Süssmuth hat einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung einer einerseits wissenschaftlich-rationalen Kriterien genügenden und andererseits die betroffenen Menschen nicht aus den Augen verlierenden Sexualpolitik in Deutschland geleistet.
Heute, anlässlich der XVII. Fachtagung Sozialwissenschaftliche Sexualforschung an der Universität Lüneburg, ehren wir Frau Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Rita Süssmuth für ihren lebenslangen Einsatz als Politikerin und Wissenschaftlerin mit der Magnus-Hirschfeld-Medaille für besondere Verdienste um die Sexualreform.
Lüneburg, den 24. September 2006
Prof. Dr. Gunter Runkel Prof. Dr. Karta Etschenberg
Präsident Vizepräsidentin
Laudatio
- gehalten von Jakob Pastötter, DGSS-Präsident -
Prof. Dr. Rita Süssmuth, Berlin
Präsidentin, OTA-Hochschule / President, OTA University (Berlin)
Präsidentin des Deutschen Bundestags a. D. / ex-President of German Parliament
Bundesministerin a. D. für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit / ex-Federal Minister for Youth, Families, Women, and Health
Magnus-Hirschfeld-Medaille 2006
für Sexualreform
Sehr geehrter Herr Präsident Runkel, sehr verehrte Frau Vize-Präsidentin Etschenberg, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ganz besonders möchte ich aber Sie, Frau Prof. Dr. Süssmuth, als Ehrengast hier im Senatssaal der Universität Lüneburg begrüssen. Für die DGSS gehören Sie gewissermassen zur Familie, denn wenn sich Ziele und Zusammenarbeit über viele Jahre so zur Deckung bringen, dann entsteht eine Nähe und Vertrautheit, die weit über das blosse Miteinander hinausgehen. Als Bundesministerien für Jugend, Familie, Gesundheit und später auch Frauen von 1985 - 1988 sowie als Anregerin und Mitgründerin der Deutschen AIDS-Stiftung, in der sie fast zwanzig Jahre Vorsitzende des Kuratoriums waren und im März 2006 den Ehrenvorsitz übernommen haben, war und ist Ihnen das Wohl von Menschen in „res sexualis“ ein echtes Anliegen.
Sie haben die entscheidenden Weichen für eine liberale und humane AIDS-Politik nicht gegen, sondern mit den Betroffenen-Gruppen gestellt. Sie haben die staatliche Unterstützung der nichtstaatlichen, unabhängigen AIDS-Hilfe-Gruppen initiiert und damit ein sehr erfolgreiches gesundheitspolitisches Modell geschaffen, das auch international Massstäbe setzte.
Sie haben sich in schwieriger Zeit gegen politische und gesellschaftliche Widerstände durchgesetzt und mit ihrer Haltung Mut, Herz und Verstand bewiesen: Nach wie vor ist das Kondom die wichtigste Waffe im Kampf gegen die Immunschwäche, und die Kampagne „AIDS-Aufklärung“ ist mittlerweile bekannter als „Der Schwarze Peter“.
Sie haben einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung einer einerseits wissenschaftlich-rationalen Kriterien genügenden und andererseits die betroffenen Menschen nicht aus den Augen verlierenden Sexualpolitik in Deutschland geleistet. Und last but not least – auf einer sehr persönlichen Ebene: Sie haben unseren langjährigen Präsidenten Prof. Erwin Haeberle 1988 aus den USA zurück nach Deutschland an das Robert-Koch-Institut als Leiter für die Information & Dokumentation am AIDS-Zentrum geholt, und ein Grossteil der anfänglichen AIDS-Aufklärung ist zusammen mit ihm und der DGSS entwickelt worden.
Bei der Recherche unserer gemeinsamen Vergangenheit sind wir auf Ihr schönes Grusswort anlässlich der IX. Fachtagung Sozialwissenschaftliche Sexualforschung: „Sexualwissenschaft und Sexualpolitik“ der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung vom 24. – 26. 6. 1988 in Düsseldorf gestossen. Sie schrieben – ich darf zitieren:
"Die diesjährige Fachtagung beschäftigt sich schwerpunktmässig mit dem Thema AIDS. Kaum eine Krankheit hat in diesem Jahrhundert nachhaltiger die Diskussion über Sexualität geprägt als AIDS. Vorbeugende Verhaltensänderungen, die Schutz vor einer HIV-Infektion bieten können, stehen dabei zumeist im Vordergrund.
AIDS gibt jedoch auch Anlass, über das Erleben und den Stellenwert von Sexualität in grundsätzlicher Hinsicht nachzudenken: Liebe, Zärtlichkeit und Moral sind untrennbar mit Sexualität verbunden und dennoch sowohl für die betreffenden Menschen als auch für die Wissenschaft kaum fassbar und durchdringbar. Dieser erweiterten Perspektive sozialwissenschaftlicher Sexualforschung hat sich die DGSS in ihren Publikationen und Veranstaltungen bereits geöffnet.
Ich würde mich freuen, wenn uns die Fülle sozialwissenschaftlicher Forschungsansätze dem Ziel näher bringen würde, die Ausbreitung der Krankheit AIDS einzudämmen u n d Sexualität in ihren vielfältigen Ausdrucksformen anzunehmen.“
Seitdem sind fast 20 Jahre vergangen. Trotzdem besitzt das, was Sie uns ins Stammbuch geschrieben haben, unverändert Gültigkeit.
Leider ist AIDS seit einigen Jahren auch in Westeuropa wieder auf dem Vormarsch. Deutschland gibt pro Kopf und Jahr gerade einmal 9¢ für die AIDS-Forschung aus, während die USA €7,30 für die AIDS-Forschung aufwenden.
Ein wichtige Rolle für den Anstieg der AIDS-Infizierten-Zahlen in Westeuropa spielt ohne Frage auch die Zwangsprostitution, der Frauen aus Osteuropa immer wieder zum Opfer fallen, sowie das falsche Gefühl von Sicherheit, das sich bei uns im Gefolge der Verbreitung erfolgreicher HIV/AIDS-Medikamente eingestellt hat. Aber: Mag die unmittelbare Lebensbedrohung verschwunden sein, die Einbussen an Lebensqualität bleiben massiv bestehen.
Die Pornographisierung weiblicher Sexualität hat ein noch vor wenigen Jahren für unmöglich gehaltenes Ausmass angenommen. Damit sind auch für die betroffenen Frauen gesundheitliche Risiken verbunden: Wir wissen seit langem, dass HIV zur schnellen Verbreitung vor allem auf jene sexuelle Minderheit angewiesen ist, die in einem gegebenen Zeitraum mit mehreren Partnern ungeschützt sexuell aktiv ist.
Das sind eigentlich alles klassische Untersuchungsfelder für die sozialwissenschaftlichen Disziplinen: Soziologie, Psychologie, Kommunikationswissenschaften – um nur einige zu nennen.
Tatsächlich ist es bis heute aber nicht gelungen, dass sozialwissenschaftliche Sexualforschung, die – ich darf Sie, sehr verehrte Frau Prof. Süssmuth, noch einmal zitieren - „Liebe, Zärtlichkeit und Moral“ als notwendige Bedingung für Sexualität als Forschungsgegenstand ernst nimmt, ihren legitimen Platz im akademischen Rahmen zugewiesen bekommen hätte.
Es hat geradezu den Anschein, als würden wir uns begnügen mit der blossen PRÄSENTATION von biomedizinischen FAKTEN ohne Reflexion über und Integration in den soziokulturellen Kontext. So manche von uns geben sich zufrieden mit soziokulturellen THESEN, die nicht mit sozialwissenschaftlichen FAKTEN empirisch belegt werden.
Deshalb erscheint es angebracht, in diesem Rahmen eine Standortbestimmung vorzunehmen, um aufzuzeigen, wie aktuell Ihre programmatische Zielsetzung immer noch ist. Für einmal kann sich weder Zivilgesellschaft noch Wissenschaftsbetrieb damit entschuldigen, dass die Politik die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Durch Ihre Arbeit, sehr verehrte Frau Prof. Dr. Süssmuth, und entsprechend in verschiedenen Gesetzen wurde längst der Weg frei gemacht, Sexualität in ihrem Zusammenhang mit „Liebe, Zärtlichkeit und Moral“ sowohl als Forschungs- und Lehrbereich als auch als „zu Lebendes“ ernst zu nehmen.
1. Sexualwissenschaft als Fachdisziplin
Sexualwissenschaft wurde bereits vor der Wende zum 20. Jahrhundert weltweit zuerst in Deutschland als eigenständige Wissenschaftsdisziplin begründet: Namen wie Iwan Bloch, Magnus Hirschfeld, Albert Moll, Max Marcuse und Helene Stöcker stehen für eine Entwicklung, die zu den ersten Weltkongressen und der Gründung eines sexualwissenschaftlichen Institutes in Berlin bereits im Jahr 1919 geführt hatten. 1933 wurde diese Einrichtung jedoch geschlossen, die umfassende Bibliothek zerstört, Wissenschaftler in die Emigration getrieben.
Im öffentlichen Bewusstsein gibt es Sexualwissenschaft daher erst seit der Veröffentlichung der sog. „Kinsey-Reports“ durch den amerikanischen Biologen Alfred Kinsey in den 40er und 50er Jahren. Grundlage bildeten Tiefeninterviews mit mehr als 10.000 amerikanischen Männern und Frauen, durch die die Kenntnisse über das reale Sexualverhalten des Menschen zum ersten Mal auf eine wissenschaftlich-empirische Basis gestellt werden konnten.
In Deutschland wurde die Disziplin dagegen erst 1959 mit dem „Institut für Sexualforschung“ der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf von Hans Bürger-Prinz neu institutionalisiert (seit 2002 „Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie“). 1973 erfolgte die Gründung des „Instituts für Sexualwissenschaft“ des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M (gegen dessen Schliessung in diesen Tagen auch wir ohne Erfolg öffentlich protestiert haben). Schwerpunkt beider Einrichtungen ist die medizinisch-psychiatrisch orientierte Sexualpathologie.
An der Universität Koblenz-Landau gab es seit den 80er Jahren eine sexualpädagogische Forschungsstelle, die der empirischen Jugendforschung verpflichtet war, die allerdings mit Emeritierung des Leiters 2002 wieder geschlossen wurde.
Die „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ (BZgA) hat 1992 das Referat für Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung eingerichtet und gibt entsprechende Expertisen an Wissenschaftler verwandter Fachdisziplinen in Auftrag. Diese werden in einer eigenen Schriftenreihe veröffentlicht, zu der auch Aufklärungsbroschüren gehören.
Seit dem Wintersemester 2001/02 wird an der Fachhochschule Merseburg ein in Deutschland einmaliges viersemestriges Postgradualstudium zur Sexualpädagogik und Familienplanung angeboten. An den Universitäten Berlin, Kiel und Bremen gibt es kleine Fachbereiche, die sich mit sexualwissenschaftlichen Fragestellungen aus medizinischer oder soziologischer Perspektive beschäftigen.
Im Vergleich zu den USA, wo neben so renommierten unabhängigen Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen wie dem „Kinsey Institute for Research in Sex, Gender, and Reproduction“ in Indiana, dem „Institute for Advanced Study of Human Sexuality“ in San Francisco oder der „American Academy of Clinical Sexologists“ in Florida auch zahlreiche Universitäten eine sexualwissenschaftliche Forschungsabteilung betreiben und eine entsprechende Ausbildung anbieten, ist die Forschungs- und Ausbildungssituation in Deutschland als ungenügend zu bezeichnen. Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik erreichen in Deutschland nicht international etablierten Standard. Dazu trägt bei, dass sexualpädagogische Beratungseinrichtungen, aber auch die Wissenschaft internationale Fachliteratur zu wenig zur Kenntnis nehmen.
2. Sexualpädagogik
Sexualpädagogik, wie es sie in Deutschland gibt, muss hier gesondert problematisiert werden. Der Begriff ist nicht klar definiert, auch ist die Berufsbezeichnung „Sexualpädagoge“ nicht geschützt, und es ist kaum bekannt, dass es für Sexualpädagogen keine akademische Ausbildung gibt – mit Ausnahme des bereits erwähnten sexualpädagogischen Aufbaustudiengangs an der FH Merseburg. Viele der in den Medien zu Wort kommenden „Sexualpädagogen“ können keine entsprechende Ausbildung nachweisen (ausser einem Selbststudium oder der Teilnahme an Kursen der genannten Beratungseinrichtungen). Dass sich trotzdem viele als Sexualpädagogen bezeichnen, lässt die Vermutung zu, dass sich dieser Bereich durch mangelnde Professionalisierung auszeichnet, der sich zu einem selbstreferentiellen System ohne wissenschaftliche Checks and Balances entwickelt hat.
Eine erste Analyse der verschiedenen sexualpädagogischen Angebote für Heranwachsende und Eltern zeigt, dass sexualwissenschaftliches Fachwissen eindeutig zu kurz kommt im Verhältnis zu einseitiger Ausrichtung auf biologische Grundlagen einerseits und „Selbsterfahrung“ andererseits. Die sich sich ständig erweiternden sexualwissenschaftlichen Erkenntnisse werden nur ungenügend vermittelt. Im Fall der sich ausbreitenden Krankheit AIDS ist das besonders fatal, weil auch sie nicht statisch ist, sich vielmehr den sich wandelnden Lebensgewohnheiten und Sexualpraktiken ebenso anpasst wie medikamentösen und aufklärerischen Massnahmen.
3. Gesellschaftliche Rahmenbedingung: massenmedialisierte Sexualität
Traute man dem selbstreferentiellen System der Massenmedien, scheint es ein Überangebot an Wissen über Sexualität zu geben. Analysen zeigen jedoch, dass die in dieser Form ausgegebenen Themen ausschliesslich oberflächliche Informations- bzw. Unterhaltungsbedürfnisse befriedigen sollen. Erinnert sei an Sendungen, in denen Schwangerschaft bei Minderjährigen als Lifestyle propagiert wurde.
Erfahrungsberichte von Lehrern und Studien der mittlerweile abgewickelten sexualpädagogischen Forschungsstelle an der Universität Landau zeigen, dass Heranwachsende, aber auch Erwachsene, nach ihrer Selbsteinschätzung über umfassende Sexualkenntnisse verfügen. Tatsächlich bestehen Defizite in wichtigen Details; vor allem Jugendliche müssen daher als „scheinaufgeklärt“ bezeichnet werden. Hier liegt die Herausforderung, der sich die akademische Sexualwissenschaft zu stellen hat:: wissenschaftlich fundierte und systematisierte Erkenntnisse bereitzustellen bezüglich eines verantwortungsbewussten Umgangs mit Sexualität und eine verantwortungsvolle Skepsis gegenüber dem vermeintlichen „Normalen“ der modernen Mediengesellschaft herzustellen. Diese ist seit der sog. Sexuellen Revolution geprägt durch einseitiges Einzelfaktenwissen, durch konsumorientierte Hedonisierung, eine Ablehnung von als restriktiv empfundenen ethischen Normen sowie durch Leistungs- und Erfolgsdruck. Bezüglich AIDS muss die Sexualwissenschaft also dazu beitragen, dass die einzelnen Fakten in einen sinnstiftenden Kontext eingebunden werden, dass sich die Hedonisierung aus der konsum- wie leistungsorientierten Umklammerung lösen kann und Raum freigibt, den Sexualpartner als Menschen mit eigener Geschichte (auch und gerade sexueller!) und eigenen Bedürfnissen wahrzunehmen.
4. Sexualkundeunterricht
Sie, sehr verehrte Frau Prof. Dr. Süssmuth, haben schon sehr früh die Notwendigkeit von Aufklärung betont. Neben dem Elterhaus gehört die Schule als Lernort und Ort des Einübens sozialer Kompetenz zu den logischen Räumen, in den Sexualaufklärung stattfinden kann. In der Tat bewerten viele Lehrer die Sexualkunde-Curricula zwar sehr positiv; folgende Defizite in Ausbildung, Fortbildung und Ausstattung werden dennoch beklagt:
Während des Lehramtsstudiums gibt es keine universitären Veranstaltungen, die die anthropologischen, biologischen, ethischen, psychologischen und soziologischen Grundlagen des menschlichen Sexualverhaltens vermitteln und sexualkundliches Basiswissen zur Verfügung stellen bzw. weiterführende Literatur vorstellen. Teilweise wird menschliche Sexualität in den Lehrveranstaltungen lediglich im Zusammenhang mit Biologie oder Entwicklungspsychologie behandelt. Dabei ist eine umfassende Behandlung sexualerzieherischer Themen seit fast 30 Jahren fester Bestandteil einer jeden LPO. Fehlt es den Universitäten an gutem Willen oder an Ressourcen? Weshalb ist die Politik darauf nicht aufmerksam geworden?
Es fehlt an geeigneter Literatur sowohl während des Studiums als auch im Unterricht. Das erstaunt insofern nicht, als dass Erwin J. Haeberles „Die Sexualität des Menschen“ – das meistausgeliehene Buch im deutschen Bibliotheksverbund – ohne aktualisierte Neuauflage seit 20 Jahren auf dem Markt ist, und weder die Schulbücher noch die verschiedenen sexualkundlichen Broschüren den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen.
Als besonders dringlich wird von Lehrern der Mangel an sexualkundlichen Materialien bezeichnet, die in interkulturellen Klassen eingesetzt werden könnten, um auf die zum Teil sehr unterschiedlichen (Wert-)Vorstellungen angemessen eingehen zu können. Vor allem islamische Normen, Regeln und Konventionen werden in den bislang zur Verfügung stehenden Broschüren und Büchern so gut wie überhaupt nicht berücksichtigt, was zu Konflikten mit Schülern und ihren Eltern führt. Nachdem sich Deutschland endlich von der Lebenslüge verabschiedet hat, kein Einwanderungsland zu sein, wäre es höchste Zeit, dieser Herausforderung mit echter Interdisziplinarität Rechnung zu tragen.
Es gibt kaum geeignete Fortbildung „Sexualkunde“ für interessierte Lehrer. Auch die Akademien für Lehrerfortbildung bieten viel zu wenige oder keine entsprechenden Seminare an. Lehrer sind häufig auf für sie nicht konzipierte Kurse von Pro Familia oder dem ISP angewiesen. Dabei vermissen Lehrende den Austausch mit anderen Fachlehrern und den Zugang zu wissenschaftlich und pädagogisch anspruchsvollen Lehrmaterialien.
Dass es dennoch hervorragende Leistungen einzelner Lehrer gibt, die sich die Sexualkunde zu ihrem persönlichen Anliegen gemacht haben, ist unbestritten.
Schlussfolgerung
Wie können wir Heranwachsende und Erwachsene für die Gefahren von AIDS und eine verantwortungsvolle Sexualität sensibilisieren? Wie können wir Lehrer bereits während des Studiums und später an der Schule in ihrer Aufgabe unterstützen, sich so über Sexualität zu informieren, dass sie dieses Wissen glaubwürdig an jede neue Schülergeneration weitergeben können? Wie schaffen wir einen Fluss aktueller sexualwissenschaftlicher Erkenntnisse von den Universitäten und Forschungseinrichtungen sowohl in die Schulen und Elternhäuser als auch über die Massenmedien an jeden einzelnen? Dass der Bedarf da ist, sehen und hören wir von der DGSS fast täglich, wenn unsere Beratungsangebote sei es von einzelnen Betroffenen oder von Journalisten in Anspruch genommen werden.
Was wäre also zu tun? Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir als Wissenschaftler und als Gesellschaft Ihr Diktum, sehr verehrte Frau Prof. Dr. Süssmuth, ernst nehmen würden und „Liebe, Zärtlichkeit und Moral“ als Parameter gelungener Sexualität nicht mehr ignorierten. Konkret könnte das so aussehen:
Wir vermitteln neben biologischen Grundlagen auch die ethischen, psychologischen und soziologischen Grundlagen des menschlichen Sexualverhaltens;
Wir nehmen eine Standortbestimmung heutiger Sexualität durch die Einordnung in ihre soziohistorische Entwicklung vor;
Wie untersuchen endlich das bis heute fortwirkende Phänomen der sog. Sexuellen Revolution und hinterfragen kritisch besonders ihre bald erfolgte Kommerzialisierung;
Wir unterstützen den kritischen Umgang mit den in den Massenmedien vermittelten sexualitätsbezogenen Themen und stellen entsprechende Analysemethoden vor;
Wir informieren über Menschenbild und sexualitätsbezogene Wertvorstellungen von muslimischen und Mitbürgern aus traditionalen Kulturkreisen.
Wir unterziehen das von BZgA, der Industrie und Beratungsinstitutionen publizierte Aufklärungsmaterial einer kritischen Überprüfung und rezipieren die weiterführende internationale sexualwissenschaftliche Literatur – auch wenn sie nur auf Englisch zugänglich ist;
Ist das alles umsetzbar? JA: wenn wir als Wissenschaftler beherzigen, was uns Frau Prof. Dr. Süssmuth vor fast 20 Jahren in das Stammbuch geschrieben hat:
„Aufklärung kann nur wirksam werden, wenn sie als länger andauernder Prozess kontinuierlich erfolgt. Sie wirkt nur in dem Masse, wie sie problemorientiert angelegt ist und Betroffenheit auslöst. Entscheidend sind: die Botschaft von Mensch zu Mensch, die Kombination von Emotionalität und Sachlichkeit, mittelbarer und unmittelbarer Betroffenheit. Es muss mir nahe gehen, es muss mich wirklich angehen.“
- Rita Süssmuth, AIDS. Wege aus der Angst. 1987, S.72.
Für Ihr sexualpolitisches Lebenswerk möchten wir Sie deshalb mit der Magnus-Hirschfeld-Medaille für Sexualreform ehren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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