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1. Beim Menschen ermöglicht Sexualität – anders als bei den meisten Tieren – nicht nur die Fortpflanzung, sondern vor allem auch das Gewähren und Empfangen von Lust sowie soziale, partnerschaftliche Beziehungen.
2.
Bei unserer Geburt ist unsere Sexualität noch nicht auf eine
bestimmte Form oder Richtung festgelegt. Ursprünglich sind wir
alle grundsätzlich fähig, sexuelle Lust sowohl allein als
auch mit anderen zu erleben. Das Geschlecht der anderen ist dabei
zunächst grundsätzlich nicht von Bedeutung.
3.
Entgegen früheren Anschauungen des 19. Jahrhunderts, die man aber
auch heute noch (oder schon wieder!) hören kann und die sogar von
einigen (meist Natur-)Wissenschaftlern wieder vertreten werden, hat die
moderne Sexualwissenschaft keine bestimmte "Veranlagung"
(biologisch-genetische Bestimmung) finden können, die einen
Menschen allein aufgrund angeborener körperlicher, biologischer
Merkmale zu einer bestimmten Form oder Richtung der Sexualität
("sexuellen Orientierung") zwingen würde.
4.
In Wirklichkeit wird das Sexualverhalten des Menschen – das
heißt, Art und Richtung seiner sexuellen Bedürfnisse und
deren Verwirklichung – auf der allen Menschen als Art gemeinsamen
biologisch-physiologischen Grundlage weitgehend durch
"Umwelteinflüsse" geprägt und vermittelt: durch soziale
Normen (Erziehung) und individuelle Erfahrung. Vom Augenblick der
Geburt an "lernen" wir, was wir zu tun und zu lassen haben. Dies
geschieht nicht nur durch uns bewusste Vorschriften von Elternhaus,
Schule und Peer-Gruppe (Freunden), sondern auch durch uns
unbewußt bleibende Erwartungen und Leitbilder unserer gesamten
Umgebung.
5. Während wir von Natur
aus gefühlsmäßig und körperlich-sexuell
grundsätzlich auf alle Menschen – unabhängig von deren
Geschlecht – reagieren können, hat unsere Kultur
eine strenge Unterscheidung solcher Reaktionen und Beziehungen
eingeführt – je nachdem nämlich, ob sie zwischen
Menschen verschiedenen oder gleichen Geschlechts stattfinden. Die
ersteren hat man im 19. Jahrhundert "heterosexuell", die letzteren
"homosexuell" genannt. Wer auf beide Geschlechter
gefühlsmäßig und/oder körperlich reagiert, gilt
als "bisexuell". Traditionell gelten – heute vor allem weniger
gebildeten Menschen – nur die "heterosexuellen" Reaktionen und
Beziehungen als "normal" und "richtig", die "homosexuellen" (auch in
der Kombination der "bisexuellen") dagegen als "unnatürlich",
manchen gar als "krank", früher sogar als "kriminell" (die volle
strafrechtliche Gleichbehandlung der Sexualitäten wurde erst vor
wenigen Jahren vom Gesetzgeber beschlossen). – Tatsächlich
sind alle diese Formen und Ausprägungen der menschlichen
Sexualitäten gleich "natürlich": beide kommen nicht nur bei
vielen Tieren, sondern auch bei den meisten Völkern bzw. Kulturen
nebeneinander vor, ohne dass dort verlangt würde, dass sich die
Menschen ausschließlich nur auf die "heterosexuelle" Richtung
festlegen müssten.
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6.
Für den einzelnen Menschen wie auch für die Gruppe bzw. die
gesamte Gesellschaft ist es von großem Vorteil, wenn jeder Mensch
ohne Furcht vor Strafen oder anderen Nachteilen sein Sexualleben frei
gestalten kann, sofern er die konkreten Rechte und Interessen seiner
Partner nicht verletzt. Er sollte also diejenigen Partner und Praktiken
für seine sexuelle Aktivität wählen können, die
sowohl seinen eigenen Bedürfnissen als auch denen seiner Partner
entsprechen. – Heterosexuelle Partner sollten sich dabei
zusätzlich der Verantwortung bewusst sein, wenn sie durch Verzicht
auf Verhütungsmaßnamen die Zeugung eines Kindes
ermöglichen.
7.
Es ist in der Geschichte der Menschen oft versucht worden, die
vielfältigen sexuellen Bedürfnisse und
Ausdrucksmöglichkeiten einzuengen, zu unterdrücken, zu
diffamieren oder ganz zu verbieten. Wer dies tut, handelt entweder
unter dem Einfluss von Vorurteilen und (oft uneingestandenen) Angst-
oder Neidgefühlen, oder aber er verspricht sich dadurch Macht und
Einfluss über andere Menschen, dass er ihnen wegen ihrer angeblich
"unsittlichen" oder "unnatürlichen" Wünsche und Handlungen
Angst- und Schuldgefühle einflößt.
8.
Wenn in diesem Zusammenhang gern der Ausdruck "Verführung"
gebraucht wird, so ist dies meist unberechtigt und zeugt von einer
Verkennung der eigentlichen Zusammenhänge. "Verführen"
heißt sinnvollerweise, einen anderen (meist schwächeren)
Menschen ohne oder gar gegen dessen Einverständnis etwas
aufdrängen, was ihm nicht nur bislang unbekannt war, sondern ihm
oder anderen Schaden zufügt. In der Sexualität ist dies aber
nur durch Gewaltanwendung möglich, die ethisch und rechtlich zu
verurteilen ist. – Wenn dagegen jemand einen anderen zu etwas
hinführt, das nicht nur keinen Schaden zufügt, sondern
vielmehr Lust und Zärtlichkeit erleben lässt, dann ist das
Wort "verführen" verfehlt. (Es sei denn, man würde sagen,
dass auch die Lehrer ihre Schüler zum Lesen, Schreiben, Rechnen
und Denken "verführen" ...)
9.
Die traditionellen Normen unserer Gesellschaft, also die alten
Vorstellungen über "richtiges" und "falsches" Sexualverhalten,
gehen auf überlieferete Anschauungen vor allem der
jüdisch-christlichen Mythologien zurück. Diese waren
ausgesprochen sexualfeindlich und erlaubten geschlechtliche Beziehungen
– wenn überhaupt – nur zum Zweck der Fortpflanzung.
Weil aber die Menschen nicht so "enthaltsam" und frei von "Sünde"
leben konnten, bekamen sie folgerichtig Schuldgefühle. Unter der
Last ihrer Schuld- und Schamgefühle, bedrückt von einem
schlechten Gewissen, waren und sind Menschen leichter zu manipulieren
und zu beherrschen. Davon haben Staaten und Religionen Gebrauch
gemacht. Die christlichen Kirchen haben erst zögernd und gegen
große innere Widerstände begonnen, ihr belastetes
Verhältnis zur Sexualität neu zu überdenken.
10.
Wenn einzelne Menschen oder Gruppen als Minderheiten diskriminiert und
Vorurteilen ausgesetzt werden, dann leiden sie unter dieser Missachtung
ihrer Persönlichkeit. Sie reagieren dann oft ihrerseits mit
Agressionen und Hass – gegen andere und auch sich selbst. Darum
haben Sexualität und Sexualmoral nicht nur eine individuelle
Dimension, sondern auch eine lebenswichtige Bedeutung für das
Zusammenleben der Menschen und für die politische Gestaltung einer
Gesellschaft.
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