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von Rolf Gindorf







Rolf Gindorf
Vorträge zur DGSS-Geschichte - Lectures on DGSS History
(siehe auch "Kurzer Überblick: Die ersten 30 Jahre" und "DGSS-Kongresse")

I. Auf dem XVI. DGSS-Kongress, Juni 2004, Universität Lüneburg
At the XVI. DGSS Conference, June 2004, at Lüneburg University



Rolf Gindorfs Antwort
auf die Laudatio von Gunter Runkel:
"33 Jahre DGSS -
Dank und kein Abschied"


Liebe anwesende Magnus-Hirschfeld-Preisträger,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Lieber Gunter,

Es enspricht sowohl guter Übung als auch einem Gefühl von Dankbarkeit, dass ich mich jetzt für die eben ausgesprochene Ehrung bedanke. Aber ich werde mich nicht zu all den eben über mich gesagten wunderbaren Dingen äussern, sondern stattdessen ein paar Worte über die von mir vor 33 Jahren gegründete DGSS sagen. Wenn das wie eine neue Laudatio klingen sollte, bitte ich das meinem hohen Alter sowie meinen 33 Jahren als Präsident und Vizepräsident gutzuhalten.

Anfangs waren Sexologen ganz überwiegend Ärzte. Aber offensichtlich gibt es mehr am Sex als nur Medizin, und im Jahr 1971 beschloss ich mit einigen Freunden, dass die Sexualwissenschaft zu wichtig war, um sie nur den Ärzten zu überlassen - die sich ja schliesslich vorrangig mit Krankheiten bzw. Gesundheitsstörungen befassen. Irgendwas, so dachten wir, müsse an dieser Einäugigkeit getan werden. Also gründeten wir die DGSS (die anfangs noch GFSS hiess) nicht mit dem Akzent auf Medizin, sondern auf den Sozialwissenschaften. (Natürlich leugnen wir nicht die Wichtigkeit unserer medizinischen Kollegen, die immer unserer Gesellschaft angehörten und etwa auf diesem Kongress mehr als 20% der Referenten ausmachen.)

So hat die DGSS also von Anfang an die Bedeutung der Sozial-, Verhaltens- und Kulturwissenschaften für ein angemessenes Verständnis der menschlichen Sexualitäten in ihren vielen Formen, Variationen und Facetten betont. Über die traditionellen sexologischen Felder Biologie, Physiologie und Medizin hinaus hat die DGSS ihren Focus auf die Sozialwissenschaften, Psychologie und Ethnologie gerichtet, unter Einschluss von pädagogischen, juristischen und historischen Aspekten. Obwohl immer auch Ärzte zu unseren Mitgliedern zählten, haben wir rein medizinische bzw. psychoanalytische Sichtweisen zu verbreitern gesucht. Anstatt uns an Heilern wie Freud und Reich oder an Visionären wie Marx zu orientieren, schauten wir eher auf Soziologen wie Durkheim, Weber und Elias und auf Kritische Rationalisten wie Popper.

Erinnern wir uns an die sechs Hauptfelder der DGSS-Arbeit der vergangenen 33 Jahre:

Feld Nr. 1:
Wissenschaftliche Forschung und Kongresse

Als Institution und über die Einrichtungen ihrer Mitglieder (d. h., Universitäten) hat die DGSS zahlreiche Forschungsprojekte durchgeführt. Die Ergebnisse wurden publiziert und auf bisher 16 sexologischen Kongressen präsentiert, den "DGSS-Fachtagungen Sozialwissenschaftliche Sexualforschung". Sieben fanden in Düsseldorf statt, fünf in Berlin, und je zwei ind Bonn und Lüneburg. Sie waren international und interdisziplinär ausgerichtet, mit folgenden Zentalthemen:

Heterosexualität und Homosexualität: zwangsläu­fi­ge Dichotomie?
Sexualtheorien
Geschlechtsrollen-Stereotypien: Soziale Bedingungen, Soziale Folgen, Reaktionen
Elternrecht und Sexualerziehung
Sexualität und Gewalt
Sexualberatung
Die Sexualität des Menschen: ein sozialer Tatbe­stand?
Sexualitäten in unserer Gesellschaft
Sexualwissenschaft und Sexualpolitik / Schwerpunkt: AIDS
Bisexualitäten
Sexualität, Recht und Ethik
Vom Sinn und Nutzen der Sexualwissenschaft
100 Jahre Schwulenbewegung
For A Millennium of Sexual Health
Sexualitäten im 3. Jahrtausend
Sexualitäten und Sozialer Wandel

Die DGSS-Tagungen fanden großes Interesse im In- und Ausland.Einige standen unter der Schirmherrschaft von Bundes- und Landsministern. Am Kongress in Düsseldorf 1988 nah­men die Präsidenten fünf nationaler und inter­nationa­ler Fach­gesell­schaften teil. Zur X. DGSS-Fachtagung 1990, die wie ihre Vorläu­fer 1921 und 1926 im Reichs­tag statt­fand, ka­men Ex­per­ten aus 20 Staa­ten, darunter nam­hafte Mit­glie­der der Inter­nationa­len Aka­demie für Sexual­forschung. Dieser Kongress wurde von fünf sexologischen Fachgesellschaften mitveranstaltet.

Feld Nr 2:
Wissenschaftliche Publikationen

Die Ergebnisse der DGSS-Forschungen wurden in einer Anzahl wissenschaftlicher Publikationen veröffentlicht, einige ins Englische übersetzt. Seit 1986 erscheint eine " Schrif­ten­rei­he So­zial­wis­sen­schaftliche Se­xual­for­schung", herausgegeben zunächst von mir und Erwin J. Haeberle, seit 2003 von Gunter Runkel.

Feld Nr. 3:
Internationale Kooperation

Die DGSS legt Wert auf die Kooperation mit der internationalen sexologischen Community. Gegenwärtige und ehemalige (Präsidiums-)Mitglieder vertraten sexologische Forschung und Lehre auch im Ausland, vor allem in USA. Direkt bzw. über ihre Präsidiumsmitglieder gehört die DGSS folgenden internationalen Einrichtungen an:
- Internatio­nal Academy of Science,
- Inter­natio­nal Acade­my of Sex Research,
- Europe­an Fede­ra­tion of Sex­ology,
- Asian Federa­tion for Sex­ology,
- World Association for Sex­ology,
- Society for the Scien­tific Study of Sexuality,
- Sexuality Informa­tion and Educat­ion Council of the Uni­ted States,
- Shang­hai Sex Sociology Re­search Center sowie
- Scientific Committees verschiedener Weltkongresse für Sexologie.

Feld Nr. 4:
Beratung

Während die DGSS schon seit den Anfängen im Jahr 1971 Beratung und Therapie anbot, ist seit 1978 das Institut für Lebens- und Sexualbera­tung ('DGSS-Institut') unter meiner Leitung angegliedert. Seine Aufga­ben: Allge­mei­ne Se­xual­be­ra­tung, Therapie sexueller Funktions­­störungen, AIDS/HIV-Beratung mit Test und vor allem die Bera­tung von bi- und ho­mo­sexu­ell lie­ben­den Men­schen, von Schwulen und Lesben ("Gay Coun­sel­ing"), durch selbst schwule Experten. - Bis­her wur­den im DGSS-Institut über 30.000 Kli­enten bera­ten. Besonders unsere eMail-Beratung erfreut sich grosser Beliebtheit und erhielt wiederholt entsprechende Rankings.

Feld Nr. 5:
Internet-Präsenz

Seit 1996 stellt die DGSS als erste deutschsprachige sexualwissenschaftliche Einrichtung ihre Arbeit im Internet (www.sexologie.org) in deutsch und englisch vor, u. z. in 18 Bereichen, u. a.
- Sexualforschung,
- Sexualberatung,
- Schwulen-, Lesben-, Bi- und TransGender-Beratung,
- AIDS/HIV-Beratung und Test
- Archiv fü Sexualwissenschaft
- DG­SS-Kongresse
- Sexologische Links
- Sexologie-Kurznachrichten sowie die äusserst populären
- Sex-FAQs.

Feld Nr. 6:
Pioniere

Im Lauf der Zeit waren wir oft die ersten auf unserem Gebiet, was ich nicht ohne Stolz sage. Etwa:
- 1971: Positive Schwulen-, Lesben- und Bisexuellen-Beratung
- 1974: Experten-Status in Richtlinien für Sexualerziehung
- 1976: Volkshochschul-Kurse für Schwule und Lesben
- 1978: Ganztags-Sexualberatung auch an Wochenenden
- 1983: AIDS-Forschung und -Beratung mit anonymem Test
- 1990: Regelmässige internationale Sexologen-Kongresse
- 1996: Sexologie-Seiten im Internet
- 2003: Internet-Kurse am Archiv für Sexualwissenschaft
.
Mit dieser erschöpfenden Liste beschliesse ich endlich die Übersicht über meine 33 Jahre DGSS, um mich auf mein Altenteil als Ehrenpräsident zurückzuziehen.

Aber doch nicht so ganz. Denn ich werde noch
- meine Arbeit am DGSS-Institut fortsetzen,
- weiterhin die DGSS-Webseiten gestalten,
- meinen Mann Wolfgang Gindorf bei seiner Arbeit als Präsidiumsmitglied und Sekretär unterstützen,
- und versuchen, dem Präsidium mit meinem Rat beiseitezustehen, wenn er denn gefragt wird.

Und jetzt, wenn die berühmten letzten Worte von mir erwartet werden: Dank Ihnen und Euch allen dafür, mich so lange ertragen zu haben.

Wir hören noch voneinander! :-) zum Anfang

Rolf Gindorf's Parting Reply
to Gunter Runkel's Laudation Speech:
"33 Years of DGSS -
Thanks and no Good-Bye"


Dear Recipients of the Magnus Hirschfeld Awards,
My Learned Colleagues,
Ladies and Gentlemen,
Dear Gunter,

Good practice and a sense of gratitude require me to thank you for the honor that was just bestowed on me. I shall not comment on all the wonderful things said about me but will take the liberty of adding a few words on what has been called by some my brain child. If this will sound like a laudation speech on the DGSS, simply put this down to my old age and my 33 years as a DGSS president or vice president.

At the beginning, sexologists were mostly medical sexologists. But obviously medicine isn’t all there is to sex, so in 1971 I decided, along with some friends, that sexology was too important to leave it to the physicians alone - who after all are dealing with illnesses, with health disturbances. We felt that something should be done about this sort of one-eyedness. So we founded the DGSS, with the accent not on medicine but on the social sciences. (Of course, this is not denying the importance of our medical colleagues who in fact have always been present in the DGSS, and who happen to make up more than 20% of the invited speakers at this conference.)

So, from the very beginning, the DGSS has emphasized the importance of the social, behavioural, and cultural sciences for an adequate understanding of the human sexualities in their many forms, facets, and variations. In addition to traditional sexological fields like biology, physiology, and medicine, the DGSS focus has centered on the social sciences, psychology, and ethnology, embracing also educational, legal, and historical aspects. Thus, although as I mentioned there have always been physicians among its members, the DGSS has tried to broaden the purely medical or traditional psychoanalytical views. Instead of looking to healers like Freud and Reich, or to visionaries like Marx, the DGSS has looked for guidance to sociologists like Durkheim, Weber, and Elias, and to critical rationalists like Popper.

Now please let me call to mind the six main fields of DGSS activity over the past 33 years:

Field No. 1:
Scientific Research and Conferences

Both as an instutition and through the facilities of its members (i.e., universities) the DGSS has been conducting many research projects. The results were published and presented at 16 se­xological conferences, the "DGSS Congresses of Social Scientific Sexuality Research”. Seven took place in Düsseldorf, five in Berlin, and two each in Bonn and Lüneburg. Interdisciplinary and international in scope, they had the following central the­mes:

Heterosexuality and Homosexuality: An Inevitable ­­ Dichotomy?
Sexological Theories
Gender Role Stereotypes: Social Conditions, Social Consequences, Reactions
Parents’ Rights and Sex Education
Sexuality and Violence
Sexual Counseling
Human Sexualities: “Social Facts”?­
Sexualities in our Society
Sexual Science and Sexual Politics / Focus: AIDS
Bisexualitities
Sexuality, Law, and Ethics
On the Purpose and Use of Sexology
100 Years of Gay Liberation
For A Millennium of Sexual Health
Sexualities in the Third Millennium
Sexualities and Social Change.

These DGSS congresses met with great sexological and public interest both in Germany and abroad. Some of them were under the patronage of Federal and State Ministers. The Düsseldorf conference in 1988 was attended by the presidents of five national and international sexological societies. The 1990 congress took place in the Reichs­tag like its historic predecessors in 1921 and 1926, hosting experts from 20 countries, among them scholars from the “International Academy for Sex Research”. That conference was co-hosted by five sexological societies.

Field No. 2:
Scientific Publications

DGSS research results have been widely publicized in a number of academic books, some of them also in English. Since 1986 a DGSS book series has been appearing, edited for the DGSS orginally by me and Er­win J. Hae­berle, meanwhile by Gunter Runkel, called the Schrif­ten­rei­he So­zial­wis­sen­schaftliche Se­xual­for­schung­ (Book Series Social Scientific Sexuality Research).

Field No. 3:
International Cooperation

The DGSS emphasizes the value of cooperation with the international sexological community. Present and Past DGSS board members have researched and taught abroad, especially the United Stated. Directly or through its board members the DGSS belongs to the
- Internatio­nal Academy of Science, the
- Inter­natio­nal Acade­my of Sex Research, the
- Europe­an Fede­ra­tion of Sex­ology, the
- Asian Federa­tion for Sex­ology, the
- World Association for Sex­ology, the
- Society for the Scien­tific Study of Sexuality, the
- Sexuality Informa­tion and Educat­ion Council of the Uni­ted States, the
- Shang­hai Sex Sociology Re­search Center, and the
- Scientific Committees of various World Congresses of Sexology

Field No. 4:
Counseling

While counseling and therapy had been provided from the very beginnings in 1971, the DGSS added in 1978 a special counseling institute to its scientific and research activities. We provide Sexuality Counseling, Gay/Lesbian Counseling, and AIDS/HIV Counseling and Testing. Since then, more than 30,000 clients received counseling or therapy. Gay and bisexual people, meeting openly gay counselors like me, form the largest client grou­p. AIDS counseling and HIV antibody testing have been provided since 1983. Especially the DGSS eMail counselling service is very popular and was repeatedly awarded the highest ranking.

Field No. 5:
Internet Presence

Since 1996 the DGSS, as the first German-langua­ge sexological institution, has been presenting its work also via­ the Internet (www. sexologie.org), both in German and English. The DGSS web site covers 18 main areas, among them
- Sexual Research,
- Sexual Coun­seling,
- Gay/Lesbian/Bisexu­al Counseling,
- AIDS/HIV­ Coun­seling and Testing,
- Archive for Sexology,
- DG­SS Congresses,
- Sexological Links,
- Sexology News,
- and the immensely popular Sex-FAQs.

Field No. 6:
Scoops

Over the years the DGSS managed to score some scoops. So, and I’m saying this not entirely without a trace of vanity, we were first in Germany to boast in
- 1971: Affirmative Counseling for Gays, Lesbians and Bisexuals
- 1974: Expert Status in Government Guidelines for Sex Education
- 1976: Courses for Gays + Lesbians at Adult Education Colleges
- 1978: 13-Hours-A-Day, 7-Days-A-Week Sexual Counseling
- 1983: AIDS Research, Counseling and Anonymous Testing
- 1990: Recurring Bilingual International Sexology Conferences
- 1996: A Sexology Web Site
- 2003: Sexology Courses via Internet at the Archive for Sexology
.
With this exhausting list, let me at long last end this summary of my 33 years of sexology, and retreat to the rest and calm befitting of a Senior Citizen and DGSS Honorary President.

Well, not quite, for I shall
- continue my work at our DGSS counselling institute in Düsseldorf,
- go on being web master for our web site,
- support my fellow board member and husband Wolfgang Gindorf in his DGSS managing and accounting tasks,
- and offer any advice that the DGSS board might feel I could give them. If and when asked ...

And now, just in case I’m expected to close with some famous last words: Thank you all for bearing with me all these years. We'll be hearing from each other! :-) zum Anfang





II. Auf dem Kongress "Sexuelle Demokratie" der Bundeszentrale für Politische Bildung, Dezember 2004 in Saarbrücken

Rolf Gindorf:
"Reform vs. Revolution: Schwule Reform-Strategien in den Sechzigern und Siebzigern"


At the Conference "Sexual Democracy" held by the Federal Government Centre for Political Education, December 2004 in Saarbrücken

Rolf Gindorf:
"Reform vs. Revolution: Gay Reform Strategies in the Sixties and Seventies"


Liebe Kolleginnen und Kollegen,
dieser Kongressteil befasst sich mit der Frage “Konsensdemokratie oder Radikaldemokratie?”, mit “Rich­tungskämpfen in den Sexualbewegungen”. Es soll also hier nicht um Wissenschaft gehen, sondern um “Streitpositionen”, gewürzt mit Vokabeln wie “Reformismus” und “Neo­konservativismus”. Das riecht nach Pulverdampf, wenn nicht gar Klassenkampf. Vielleicht sogar nach dem letzten Gefecht zwischen Gigi und LSVD?

Nun, ich soll hier die Position des sogenannten “Reformismus” vertreten. Reformismus, was heis­st das eigentlich? Nach einem bekannten “Lexikon zur Soziologie” be­zeichnet das Wort “Reformismus” u. a. - ich zitiere -

“in einem abwertenden Sinne eine Politik, die zwar Reformen anstrebt, sich aber über die Möglichkeit ihrer Verwirklichung keine Rechenschaft gibt, häufig Reformen zum Selbstzweck werden lässt und den Zusammenhang von Reformen und Systemveränderungen aus den Augen verliert.”

Demnach ist Reformismus ein abwertend-polemischer Begriff; etwas, das vorzugsweise sogenannte “Linke” vermeintlich “bürgerlichen” Gegnern unterstellen. Kurz, Reformisten sind - bestenfalls - Deppen.

Mit Verlaub, so ein Reformist bin ich nicht. Wenn Sie den erwarten, muss ich Sie enttä­schen. Aber einen einge­fleischten Reformer lasse ich mich gern schimpfen: einen Reformer, der nicht alles, aber doch vieles an den bestehenden Verhältnissen verändern will - insbesondere an den Sexualverhältnissen. Und zwar ohne Weltrevolution und Blutvergiessen, ohne Preisgabe von Rationalität, ohne Verlust von Nüch­ternheit und Augenmass, ohne den verführerischen Raus­ch betörender Floskeln. Daher will ich mich und Sie ohne Zorn und Eifer an einige unserer reformerischen Bemühungen und Erfolge von damals erinnern, in den ‘60ern und ‘70ern - Beispiele werde ich später nen­nen. Wohl­gemerkt, damit soll all denen, die sich nicht als Reformer verstanden und verstehen, nic­ht das Recht auf ihre Sichtweise bestritten wer­den. Aber vielleicht kön­nen die Erinnerungen, die Strategien und die Erfolge eines schwu­len Reformers von damals noch heute von einigem Nutzen sein.

Zuerst wollte ich meinen Kurz­vortrag (“10 Minuten”, hat man mir gesagt) überschreiben mit “Reform vs. Revolution - Fluch und Segen des Queer­ismus”, wobei ich mich für letzteres Wort bei den Puristen unter uns entschuldige. Ich wollte damit der Bitte eines der Kongress-Organisatoren nachkommen, der mich ermahnt hatte: “Beachte bitte, dass ich das Reizwort queer benutzen will, um die Inklusion möglichst vieler Sexualrandständler zu erreichen.” Sexualrandständler? Wer sich so sehen mag - bitte sehr! Aber ich gestehe freimütig, ich persönlich kann mich darin nicht erkennen, auch nicht um einer gewollten politisch-theoretischen Inklusion willen. Ich bin - schon seit über 45 Jahren offen und veröffentlicht - schlic­ht und einfach ganz normal schwul - im Rahmen der schwulen Bandbreiten.

Damit sind wir wieder bei einem semantischen Reizwort: normal. Je nach Definition, nach politisch-ideologischen Hintergrund ist das für die einen die erstrebenswerte Norm, für andere eine bloss statistische Beschreibung, für wieder andere eine teufliche Fallgrube für anpassungshungrige Naivlinge. Damit ist der alte Streit “Reform vs. Revolution” erneut angesprochen. Selbstverständlich spie­gelt er - ich sage es noch einmal - keine wissenschaftliche, sondern eine politische bzw. Tem­peraments-Frage wieder.

Natürlich sorgten auch wir Reformer für Aufgeregtheiten beim Publikum. Nur ein Beispiel dafür. “Homosexualit­ät und Normalität - Vom Irrtum unserer Kategorien”, so nann­ten wir in einer Veröffentlichung vor genau 30 Jahren unser sexualwissenschaftliches und sexualpolitisches Credo. Es erregte damals selbst fortschrittlich-liberale Gemüter, die Anstoss nahmen an der dort vorgenommenen Normalitäts- und Gleichwertigkeits-Proklamation der sexuellen Orientierungen. Das ist Geschichte; heute werden offen schwule Politiker zu Länderchefs gewählt und wiedergewählt. Laut Umfragen hätten immerhin 70% der Bun­desbürger auch nichts gegen einen schwu­len Bundeskanzler. Nicht nur Blues-Fans werden mir zustimmen: We came a long way from St. Louis ...

Rüdiger Lautmann hatte mich gelockt: “Bürgerrechte als politische Reformstrategie entspricht doch wohl deiner ‘politischen Philosophie’ und vor allem auch deiner Aktivität”. - Nun, tatsächlich galten meine Aktivitäten in den letzten Jahrzehnten mehr der Sexualwissenschaft und Sexualberatung als der Sexualpolitik. Aber es stimmt schon: Bürgerrechte als sexualpolitische Reformstrategie, das war in der Tat meine und meiner Freun­de Maxime bei unseren schwulenpolitischen Aktionen seinerzeit. Ich nenne einige Ecksteine unserer reformerischen Aktivitäten damals:

- 1964 veröffentlichtes programmatisches Coming-out (da­mals noch mit einem Bein im Zuchthaus);

- 1969 Mitarbeit in der ersten (bürgerlichen, vor-studentischen) deutschen Nachkriegs-Schwulenorganisation ‘Interessenvereinigung Deutscher Homophiler e.V.’ - so hiess die wirklich! -, mit Schreiben an führende Politiker und alle Bundestagsabgeordneten zwecks Streichung des § 175 StGB sowie Berichten im ‘Spiegel’;

- 1971 Gründung des ‘Düsseldorfer Arbeitskreises Homosexualität und Gesell­schaft’, der weit über Düsseldorf hinaus wirkte und erfolgreich PR für die schwul/lesbische Sache betrieb. Er verhalf beispielsweise dem Bundesland NRW zu den ersten pro-schwulen “Richtlinien für Sexualerziehung an den Schulen”, die uns auch als Bezugsquelle für Informatio­nen nannten. - Dem Düsseldorfer Arbeitskreis folgte­n bald zwei weitere analoge PR-Gruppen: der “Niedersächsische Arbeitskreis Homosexualität und Gesellschaft” sowie der “Schleswig-Holsteinische Arbeitskreis Homosexualität und Gesellschaft”;

- 1974 Experten-Status in den Richtlinien für Sexualerziehung;

- 1976 bundesweit erste Volkshochschul-Kurse für Schwu­le und Lesben, in Düsseldorf sowie anderen Städten des Rhein­lands und Ruhrgebiets.

Soweit die Beispiele zur Veranschaulichung. Das Rationale für diese reformerische Arbeit habe ich dann 1977 in Rüdiger Laut­manns wichtigem Suhrkamp-Band “Seminar: Gesell­schaft und Homosexualität” be­schrieben. Darin stellte und beantwortete ich u. a. folgende Fragen:

- Wie sinnvoll erscheint angesichts tiefverwurzelter Stereotype eine derartige Reformarbeit überhaupt?

- Innerhalb welchen normativen Referenzrahmens müsste sich ein angestrebter Normenwandel konkret vollziehen?

- Auf welche soziologischen bzw. sozialpsychologischen Erfahrungen und Modelle könnten sich derartige Reform-Bemühungen stützen?

- Welche Persönlichkeitsmerkmale und welche Strategiekonzeptionen müssten die Träger solcher reformorientierten öffentlichkeitsarbeit sinnvollerweise aufweisen?

Die damals, vor fast drei Jahrzehnten, gegebenen Antworten kann man dort nachlesen; im Kern gelten sie noch heute für alle heterodoxen Sexualitäten. - Um unsere damalige Reform-Strategie zu verdeutlichen, zitiere ich kurz aus dieser Arbeit:

“Nach einem konservativen Modell der Ohnmacht gesellschaftlich stigmatisierter Minderheiten gegenüber dem Diktat herrschender Vorurteile sind Einstellungen zu tabuierten Gegenständen wie Sexualität, insbesondere Homosexualität, in ihrem Kernbestand stabil und ände­rungsresistent. Mit dieser pessimistischen Grundhaltung korrespondiert auch die Praxis mancher Schwulengruppen, über der berechtigten Kritik am bestehenden Normsystem die schon heute - also noch vor dem vielfach geforderten radikalen Wandel des gesamten politisch-ökonomischen Systems - bestehenden Möglichkeiten einer zielgerichteten Einflussnahme entweder gar nicht wahrzunehmen oder sogar als ‘reformistische Anpassungsstrategie’ zu verurteilen. Steht hinter einer derartigen Auffassung nun nüchterne Analyse oder ein eher romantisches Bedürfnis nach der Rolle des heroischen Märtyrers (...)?"

Soweit das Zitat von damals. Nun, Sie ahnen unschwer, was ich damals für zutreffender hielt. Aber, um Rüdiger Lautmann nochmals aus seiner Einladung zu zitieren: “Hingegen haben prononciert Linke (natürlich auch so ein Sam­mel-Etikett, welches die sogenannten Chao­ten mitein­schliesst) oft starke Vorbehalte gegen eine Schrittchen-für-Schrittchen-­Stra­tegie (‘Sa­lami-Taktik’)”. - In der Tat, das haben sie wohl. Und für solche Vorbehalte habe ich auch durchaus Verständnis, ohne sie mir allerdings zu eigen zu machen - ob sich diese Vorbehalte nun auf politische Analyse oder auf unreflektiert-emotionale Ablehnung gründen. Zu beidem halte ich die Akteure durch­aus für fähig.

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde - lassen Sie mich zum Schluss und zu einer fast Hegelianischen Synthese kommen, beunruhigend wie versöhnlich zugleich: ich vermute, dass die “feind­lichen Lager” damals wie heute einander mehr bedingen, als ihnen bewusst und lieb sein mag. Im Klartext: Reformer und Revolutionäre, Konsens- und Radikaldemokraten brauchen einander.

Und das ist wohl auch gut so. zum Anfang







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