|
Jürgen Claudia Clüsserath, Trier:
Intersexualität: zerrissen zwischen Wissenschaft und Realität. Zur Problematik geschlechtlicher Zwangszuweisung aufgrund eines bipolaren Geschlechterkonzeptes
'Die Würde des Menschen ist unantastbar', so steht es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, und gemäss der Präambel gilt dies sogar „im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“.
Zunehmend werden in unserer Zeit Kinder, die mit intersexuellen Körpermerkmalen geboren wurden, in das in unserer Kultur vorherrschende bipolare Geschlechtermodell gezwungen. Verstärkt durch die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik ist auch eine Zunahme der Abtreibungen intersexueller Feten zu verzeichnen. Sie sind standardmässig, so sie geboren werden dürfen, Objekte massivster medizinisch-physiologischer und psychologischer Eingriffe in ihre angeborenen geschlechtlichen Strukturen. Die Ursprünge dieser Eingriffe in die eigene angeborene Integrität von Körper und Geist intersexueller Menschen liegen in den Menschenexperimenten des "Dritten Reichs". Gesellschaftsfähig und allgemeiner medizinischer Standard jedoch wurden sie zu Beginn der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts.
Viele - aus meiner Erfahrung als Betreuerin nahezu alle - von frühkindlicher geschlechtlicher Zwangszuweisung betroffene Menschen haben massive körperliche und psychische Probleme Zeit ihres Lebens in Kauf zu nehmen. Sie sind oft die Folge des somatisch realisierten Zwangs, sich der Bipolarität der Geschlechter, dieser unheilvollen Dichotomie von "entweder - oder", beugen zu müssen. Selbstverstümmelung, soziales Versagen, lebenslange Einsamkeit und nicht zuletzt Suizid sind häufige Folgen. Nach Angaben in den verschiedensten Medien werden in Deutschland Tag für Tag 13,7 Kinder solcherart behandelt. Die Leidenswege sind bekannt, und es fragt sich, ob das medizinisch Machbare auch das moralisch, ethisch und menschlich Vertretbare ist.
Bei zwei Dritteln der bei mir vorsprechenden und fachärztlich oder -psychologisch als "transsexuell" klassifizierten Menschen liessen sich intersexuelle Anlagen und häufig auch diesbezügliche frühkindliche Interventionen nachweisen. Die Betroffenen wissen in der Regel selbst nichts darüber. Sie haben sich jedoch, wenn ihre Intersexualität nicht entdeckt bzw. als Transsexualität falsch diagnostiziert wird, gemäss dem Transsexuellengesetz (TSG) einer Zwangskastration zu unterziehen und einen psychischen Defekt in Form eines Randvermerks im Geburtenbuch eintragen zu lassen.
Die sexualmedizinische Diagnostik wie die gesetzliche Moral bedürfen hier dringend einer Überarbeitung, da eine fehlgeschlagene medizinische Behandlung nicht durch eine öffentlich sichtbare Stigmatisierung qua Geburtenbuch zu Lasten der Betroffenen dokumentiert werden darf. Das Geschlecht eines Menschen ist eben nicht beliebig wählbar, und alle geschlechtlichen Eingriffe schaffen irreversible Fakten. Bei intersexuellen wie transsexuellen Menschen sind kosmetisch genitalverändernde Eingriffe praktizierte somatische Realität. Behandlungen und Hilfen für die daraus entstehende psychische, soziale und rechtliche Realität fehlen jedoch.
Die Wissenschaften haben hier nicht die Aufgabe, physiologisch non-konforme Individuen mit wie auch immer gearteter Gewalt an die Gesellschaft mit ihrem manifesten, jedoch gemessen an der natürlichen Geschlechtervielfalt inadäquaten Normsysteme anzupassen. Ihre Aufgabe im Sinne der Wissenserweiterung, der Bildung und der Humanisierung ist es vielmehr, interdisziplinär darauf hinzuwirken, dass von der starren bipolaren geschlechtlichen Norm abweichende Menschen nicht länger als "krank" gelten, sondern als natürlicher Teil dieser Gesellschaft anerkannt sind.
Zur Person:
Jürgen Claudia Clüsserath, Jahrgang 1958. Stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti) und Betreuerin von intersexuellen Menschen. Ehemaliger Zeitsoldat mit besonderem Aufgabenbereich, Unternehmerin im Einzelhandel und der Freizeitgestaltung.
Gemäss Geburtsanzeige geschlechtlich "weiblich", im Geburtenbuch dann später „männlich“.
Ca. zwei Jahre erzogen in weiblicher Sozialisation bei den Eltern. Mehrfach religiöse Umtaufen.
Nach der Geburt chirurgischen und medikamentösen geschlechtlich determinierenden Behandlungen unterzogen. Bis heute 14 mal an verschiedenen Bereichen ihres Körpers wegen Fehlbildungen operiert, wobei die meisten Operationen zwischen 6 und 11,5 Stunden dauerten.
Ursächlich erfolgten die meisten Operationen infolge lateral gestörter links-rechts-Ossifikation. Diese Operationen sind mit hoher Wahrscheinlichkeit direkte Folgen der frühkindlichen Eingriffe.
Den aktuellen genetischen Befunden zufolge muss sie sich wohl als Chimäre (Mischwesen) ansehen, weshalb "es" wohl - ungeachtet ihres menschlichen Aussehens - auch nicht den vollen Schutz des Grundgesetzes geniesst.
Anschrift:
Jürgen Claudia Clüsserath
Servaisstr. 46
54293 Trier
Tel. und Fax (0651) 6 90 00
eMail: wedernoch@aol.com
|