"Sexualität ist höchst unterschiedlich und individuell ausgeprägt", erklärt Rolf Gindorf von der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) in Düsseldorf. Und auf Zahlen kommt es dabei nicht an: Entscheidend sind nicht die Häufigkeit der Orgasmen pro Tag, Monat oder Jahr. Und auch die Menge der Sexualpartner - egal, ob gleichzeitig oder nacheinander - oder deren Geschlecht ist unwichtig. Entscheidend ist das Gefühl: "Das normale Maß ist überschritten, wenn es dem Betroffenen nicht gut bekommt", sagt Gindorf. Wer merkt, dass er Sex macht, obwohl er das eigentlich gar nicht will, habe ein Problem. Und den Weg aus dieser Zwangslage finden Betroffene seiner Ansicht nach sehr oft nicht ohne fachliche Hilfe
Im Prinzip birgt jedes normale Verhalten, jedes Hobby die Gefahr, dass es übertrieben wird, um von Alltagssorgen abzulenken: Auch Verhaltensweisen wie Waschen, Laufen, Bodybuilding, Arbeiten und Sammeln können eskalieren, so das sie zu einer behandlungsbedürftigen Störung werden. Die Frage ist, welches Maß bei der Beurteilung angelegt werden soll.
Eine klar gezogene Trennlinie zwischen einem übertriebenen, aber noch akzeptablen und krankhaftem Verhalten gibt es nicht. Sicher ist nur, dass irgendwann eine unmerkliche Schwelle zur Abhängigkeit überschritten wird. Doch was sind die Anzeichen dafür, dass man sich mit seinen Verhalten schon jenseits von Gut und Böse bewegt und in einer psychologischen Endlosschleife gefangen ist?
"Wenn eine normale Verhaltensweise zum Hauptlebensinhalt wird und alle anderen Interessen verkümmern, ist die Grenze überschritten", antwortet Prof. Iver Hand von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf: Wer sein Leben nicht mehr schafft, weil sich bei ihm alles nur um Sex und Pornografie dreht, braucht professionelle Hilfe. Dabei ist den Problemen der Betroffenen mit einer klassischen Suchttherapie meist nicht beizukommen.
Ist es wirklich eine Sucht?
Das liegt daran, dass es sich bei Verhaltensexzessen nach Ansicht vieler Fachleute gar nicht um Süchte handelt: "Wissenschaftlich ist noch nicht bis ins Letzte geklärt, ob es Sucht ist oder nicht", sagt Christa Merfert-Diete von der Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) in Hamm. "Eine Sucht ist laut Definition immer an einen Stoff gebunden." Sexualberater Rolf Gindorf stellt klar: "Es gibt keine Sexsucht." In mehr als 30 Jahren mit fast 29.000 Klienten habe er keinen gehabt, der tatsächlich "süchtig" nach Sex war.
Weil Alkohol, Kokain und andere körperlich abhängig machende Drogen fehlen, kommt es auch bei stoffungebundenen Abhängigkeiten - bei denen die Experten je nach Ausprägung lieber von Zwangsspektrumsstörungen oder Störungen der Impulskontrolle sprechen - nicht in erster Linie darauf an, "clean" zu werden und auf die Einnahme einer Droge zu verzichten. Statt absoluten Verzicht zu üben, ist eine an der individuellen Situation des Betroffenen ausgerichtete Verhaltenstherapie das Mittel der Wahl: "Wichtig ist, dass die Personen ihr Verhalten reflektieren", erklärt DHS-Expertin Merfert-Diete. Das Ziel müsse es sein, der exzessiven Handlung wieder den richtigen Stellenwert zuzuweisen und in das eigene Leben zu integrieren.