Flexible Neigungen
Bisexualität ist häufiger, als bislang gedacht - Die Kultur prägt den Menschen, nur eine Seite auszuleben

von Heike Stüvel

Immer mehr junge Leute meinen, dass ihnen ein allzu einfaches Modell der Sexualität von ihrer Umwelt vermittelt wurde. Sie lehnen es ab, sich weiterhin entweder in die Hetero- oder Homo-Schublade stecken zu lassen. An amerikanischen Hochschulen macht das Schlagwort „Fluidity“ die Runde: fliessende Übergänge im Sexualleben sind damit gemeint.

Nach dem Motto der wilden zwanziger Jahre: „Ein bisschen bi schadet nie“ leben Prominente wie Till Schweiger in dem Film „Der bewegte Mann“ oder David Beckham vor, dass nichts dabei ist, auch mal mit einem Kumpel zu kuscheln. Madonna zelebriert in ihren Videos sowohl Hetero- als auch Homo-Erotik, den Zeitgeist traf auch ihr öffentlicher Zungenkuss mit Britney Spears.

Nur der gesellschaftliche Druck, glaubt jedenfalls der Berliner Sexualforscher Erwin Haeberle, hindere viele Menschen an der Entfaltung ihrer sexuellen Doppelnatur. Im klassischen Griechenland galt die Knabenliebe sogar als sublimste Form der Erotik. Sie wurde in den gehobenen Kreisen Athens als edle Seelenregung kultiviert und höher eingeschätzt als die eheliche Pflicht. Lustknaben zählten zur „Familie“ von Herrschern, die gleichwohl mit ihren Konkubinen Scharen von Kindern zeugten. „In der Antike“, schreibt Haeberle, „war die Geschlechtszugehörigkeit der jeweils Geliebten und Liebenden kein Betrachtungsgegenstand, bei dem man sich lange aufhielt: “Der „mutwillige Eros“ trieb seine Opfer nach Lust und Laune zu Paaren - die gezeugte Nachkommenschaft wurde als Ergebnis höherer Gewalt akzeptiert. Als Ideal taugt die Sklavengesellschaft der Antike allerdings nicht: Wie traumatisch die oft noch vorpubertären Jungen diese antike "Knabenliebe" erlebt haben, wird nicht berichtet.

Erst seit wenigen Jahrzehnten sind sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen gleichen Geschlechts kein Straftatbestand mehr. Sexualwissenschaftler weisen darauf hin, dass dass es viele Menschen gibt, die sich gleichermassen von Männern wie auch Frauen angezogen fühlen. Doch dieses Phänomen zu fassen, gleicht dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln.

Wer gilt denn als bisexuell? Ist es schon die enttäuschte Frau, die in den Armen einer anderen Frau vergessen sucht? Ist es auch der Halbwüchsige, der in der Pubertät mit einem Freund spielerisch die Sexualität erkundet? „Nein, auf keinen Fall“, sagt der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch. „Wirklich bisexuell ist, wer gleichermassen mit Männern wie Frauen erotisch und sexuell mit Erregung und Befriedigung verkehrt - und zwar in einer Lebenszeit: Also nicht 10 Jahre so und dann und 10 Jahre anders.“ Auch in den Gedanken „standfester“ Heteros beiderlei Geschlechts kreisen manchmal homoerotische Phantasien. „Alle Menschen sind im Kern bisexuell“, meint der Wissenschaftler. „Weil wir als Kind unsere Mutter und unseren Vater geliebt haben. Das ist in unserer Seele niedergeschlagen. “Bisexualität existiert wirklich, und man muss sie ernst nehmen. Das kann man oder frau nicht spielen, es sei denn, es geht nicht um sexuelles Begehren, sondern um Befriedigung narzistischer Bedürfnisse." Solche narzistischen, also selbstverliebten Menschen können dann fast wahllos mit jedem verkehren, fand Sigusch heraus.

Für den in Düsseldorf praktizierenden Sexualtherapeuten Rolf Gindorf besteht kein Zweifel, dass sich in Zukunft mehr Frauen und Männer zu bisexuellem Lebenswandel entschliessen werden. Von ihrem biologischen Potenzial her seien alle Menschen bisexuell, glaubt er. Diese Fähigkeit müsse aber erst durch bestimmte Erfahrungen „aktualisiert“ werden. Bleiben diese aus – etwa durch kulturell normierte („Zwangs"-)Heterosexualität – könne sich unser bisexuelles Potenzial in der Regel nicht entfalten.

„Zweierbeziehungen sind nicht unbedingt von der Natur geplant“, meint auch Jürgen Höhn von Berliner Zentrum für bisexuelle Lebensweisen. „Was uns der eine nicht gibt, kann uns ein anderer geben. Es gibt über die traditionellen Beziehungsmodelle viele Möglichkeiten des glücklichen Zusammenlebens." Diese Art von Freiheit kann jedoch auch Probleme aufwerfen: Wer sich nie festlegen mag, versämt es, eine feste Bindung zu einem Lebenspartner aufzubauen, meint der Berliner Psychologe Christian Thiel. In seiner Singleberatung erlebt er viele Menschen, die sich nichts mehr wünschen als einen Lebenspartner.